Die Reformation radikalisieren – provoziert durch Bibel und Krise
Radicalizing Reformation: Provoked by the Bible and Today's Crises
Reforma em sua radicalidade – suscitada pela Bíblia e pela crise da atualidade

Ein kritisches Forschungs- und Aktionsprojekt zum Reformationsjubiläum 2017

"Ernsthafte Besinnung aufs Evangelium und scharfe Augen auf die Gegenwart sind die Kräfte, aus denen die lebendige Kirche neu geboren wird. Die kommende Kirche wird nicht 'bürgerlich' sein." Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio, DBW 1, 292

2017 wird das Reformationsjubiläum stattfinden – 500 Jahre nach Martin Luthers Thesenanschlag in Wittenberg. Angesichts der gegenwärtigen Krisen kann man dieses Ereignis nicht einfach feiern. Deshalb hat sich eine interdisziplinäre Gruppe von WissenschaftlerInnen zusammengetan, die Gelegenheit dieses Jubiläums dazu zu nutzen, folgende Fragen zu stellen: Hat die Reformation zur Entwicklung der westlichen Moderne und der auf sie zurückgehenden Krisen beigetragen und, wenn ja, wie? Wie kann eine neu verstandene und praktizierte Reformation dazu beitragen, diese Krisen zu überwinden? Das würde eine tiefe Umkehr und Transformation auf der Grundlage der Wurzeln der Reformation erfordern, das heißt aber buchstäblich, sie zu „radikalisieren“. Etwa 30 an diesem Projekt Beteiligte trafen sich in Nürnberg vom 19. bis 23. Februar 2012, um für die Zeit bis 2017 ein Forschungs- und Aktionsprogramm zu entwerfen, das sich dieser Herausforderung stellt.

Vom 3.-7. August 2014 fand die zweite Internationale Konferenz in Halle statt. 94 Thesen wurden dort verabredet. Sie werden ab Ende Februar 2015 zusammen mit 5 Bänden Forschungsergebnissen in einer neuen Reihe: „Reformation radikal“ veröffentlicht und dann auch auf die website gestellt.

Die Reihe fragt: von welcher Perspektive aus ist es sinnvoll, heute auf die Reformation zu blicken? Wir wählen eine Doppelperspektive: „Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“ . Ausgangspunkt ist die umfassenden Krise des Lebens heute. Darauf und auf die Reformation samt Wirkungsgeschichte blicken wir aus der Perspektive sozialgeschichtlicher Bibellektüre, das heißt, aus der Perspektive der Befreiung zum Leben in gerechten Beziehungen. Denn nach Luther müssen alle Traditionen nach dem Maßstab der Schrift beurteilt werden. Die folgenden Publikationen enthalten 94 Thesen als gemeinsame Zuspitzung aller 5 Bände:

Bd. 1: Befreiung zur Gerechtigkeit
Hier geht es um das Herzstück der Reformation: Rechtfertigung – Gesetz – Evangelium. Zentral ist dabei die kritische Perspektive der neuen Paulusdeutung gegen die individualistische Auslegung, die Gottes Gerechtigkeit und Befreiung auf das westliche Ich umdeutet und den kalkulatorischen Kapitalismus vorbereitet; gegen die Identifikation des tötenden Gesetzes mit der Tora statt mit dem Gesetz des römischen Imperiums; gegen die schroffe Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium, die die Loslösung des NT vom AT bewirkt und Antijudaismus und Antisemitismus hervorruft.

Bd. 2: Befreiung vom Mammon
Diese Fragestellung verbindet Bibel, Reformation und heutige Krise: das Geld in religiöser, politisch-ökonomischer und mentaler Perspektive. Im AT und NT wirkt die imperiale Herrschaft des Geldes als strukturelle Sünde, die alle zu Mittäterinnen und Mittätern macht. Gottes Befreiung vollzieht sich wesentlich über die Bildung torageleiteter und neuer messianischer Gemeinschaften, die Solidarität statt egozentrischen Individualismus praktizieren. Dem entspricht Luthers Verwerfung des käuflichen Heils ebenso wie seine systemische Kritik des Individualismus und des Frühkapitalismus.

Bd. 3: Politik und Ökonomie der Befreiung
Luther übt systemische Kritik am Frühkapitalismus. Er durchschaut den religiösen Charakter des Kapitalismus auf der Basis des 1. Gebots. Seine Schriften zum Handel und Wucher (Finanzsystem) sind zwar im Protestantismus am Rande wirksam geblieben (wie z.B. bei Winstanley im 17.Jh.), aber insgesamt sind die lutherischen Kirchen dieser kritischen Perspektive nicht gefolgt. Erst in jüngster Zeit sind die Potentiale der Position Luthers für die Kritik am Neoliberalismus und für eine politische Ethik der Parteinahme und der Versöhnung wiederentdeckt worden.

Bd. 4: Befreiung von Gewalt zum Leben in Frieden
Das lateinamerikanische Buen Vivir kann als Kriterium einer neuen Kultur des Lebens gelten. Danach sind viele Fehlentwicklungen in und nach der Reformation aufzuarbeiten: Die Wiedergewinnung der politischen Lektüre der Bibel und der materiellen Naturbasis als Medium des Glaubens und des Kircheseins; die Überwindung der gewalttätigen „religiösen Identitätspolitik“ Luthers gegenüber Bauern, Täufern, Juden und Muslimen; eine postkoloniale Perspektive auf Luther; der Durchbruch zu aktiver Gewaltfreiheit – eine „neue Reformation“ im Sinn Bonhoeffers und Sölles.

Bd. 5: Kirche – befreit zu Widerstand und Transformation
Das Kreuz ist ein Zeichen des Bösen, des Trosts für alle, die gefoltert werden und leiden, ein Zeichen der Hoffnung und der Befreiung. Jesus Christus nimmt die sozio-politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen derer auf sich, die ihrer Rechte beraubt werden. Die Kirche muss ihren Bestand aufs Spiel setzen, indem sie mit den und für die Armen lebt. In der Sünde leben wir getrennt, durch den Geist werden wir wieder miteinander verbunden. Der Geist wirkt frei in den Menschen und in der Welt, darum auch in nichtchristlichen Religionen. Statt sich nur auf die einzelnen Individuen zu konzentrieren, gehört es zum Wesen der Kirche, einen gemeinschaftlichen Ansatz für Widerstand und Transformation zu entwickeln.